Es spricht viel dafür, ausnahmslos alle von der Corona-Krise getroffenen Haushalte und Unternehmen vor Firmenpleiten bzw. Verarmung zu bewahren. Dies jedoch ausschließlich mit neuen Staatsschulden zu tun, ist fragwürdig, da in der Corona-Krise die Nachfrage und das Angebot gleichermaßen einbrechen, so dass es aktuell gar keiner Konjunkturspritze bedarf. Viel besser wäre es, die Unterstützungsleistungen zu einem großen Teil aus den Einkommen derjenigen zu finanzieren, die keine finanziellen Einbußen verzeichnen.
Die Corona-Krise trifft uns sehr unterschiedlich. Einige haben lediglich ihren Arbeitsplatz nach Hause verlegt, arbeiten aber wie gewohnt weiter und beziehen ihr volles Gehalt. Andere müssen einen Totalausfall ihrer Einnahmen hinnehmen und entweder von ihren Reserven leben oder Unterstützungsleistungen beantragen. Dazwischen gibt es eine Gruppe von Menschen, die sich mehr oder weniger stark einschränken muss. Auf Unternehmen bezogen sieht es ähnlich aus, mit vielfältigen Gründen für teils heftige Umsatz- und Gewinneinbußen (angeordnete Geschäftsschließungen, Zuliefererprobleme, Absatzprobleme …), teilweise aber auch Umsatzsteigerungen.
Bei den Krisenverlierern leuchtet schnell ein, dass es dort einen dringenden Handlungsbedarf gibt. Viele Privathaushalte bekommen ernsthafte Schwierigkeiten, wenn die Einnahmen zwei, drei oder noch mehr Monate wegbrechen. Auch diejenigen, die die Krise dank Rücklagen oder Transferleistungen finanziell überstehen, dürften in vielen Fällen lange unter den Folgen zu leiden haben, z.B. wegen eines aus finanziellen Gründen erforderlich werdenden Umzugs oder in Form von einer zusammengeschrumpften Altersvorsorge. Betroffene Unternehmen werden teilweise vom Konkurs oder von einer hohen Schuldenlast bedroht sein. Um diese Schicksale weitgehend zu vermeiden, liegt es nahe (und wurde in Deutschland und vielen Ländern ja bereits beschlossen), Transferleistungen an betroffene Haushalte und Unternehmen zu zahlen.
Es gibt jedoch umgekehrt auch gleich mehrere Gründe, diese Transferleistungen zu einem guten Teil aus den Einkommen bzw. Gewinnen derjenigen zu finanzieren, die in der Krise keine oder nur geringfügige finanziellen Einbußen erlitten haben und nicht zu den Geringverdienern gehören.
- Aufgrund der Einschränkungen im öffentlichen Leben gibt es ja aktuell gar keine Möglichkeit, Geld für Tourismus, Konzertbesuche usw. auszugeben. Wer also weiterhin ein anständiges Einkommen bezieht, hat am Ende des Monats sozusagen automatisch mehr Geld übrig als normalerweise.
- Wollte man die Einkommenseinbußen ausschließlich mit zusätzlichen Staatsschulden finanzieren, wie es ja aktuell geplant ist, würde es zu einer im Vergleich zum geschrumpften Angebot zu großen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage kommen. Falls die Produktion (im Sinne des BIP) im zweiten Quartal um 7% zurückgeht (was dem mittleren Szenario des Sachverständigenrats entspricht, S. 36 in dessen Sondergutachten), während die Einkommensausfälle vollständig durch schuldenfinanzierte Transferzahlungen ausgeglichen werden, könnten Engpässe bei der Bereitstellung bestimmter Konsumgüter entstehen. Vor allem aber würde ein großer Teil der Einkommen mangels Konsumgelegenheiten zurückgelegt werden, so dass nach der Krise Anstürme auf Möbelgeschäfte, Hotels usw. zu erwarten wären, die diese nicht bedienen können, so dass es wiederum zu Engpässen, erheblichen Preissteigerungen und einer vorübergehenden Überhitzung in diesen Märkten kommen könnte. (Eine gesamtwirtschaftliche Ersparnisschwemme über das ohnehin schon bestehende Maß hinaus muss wohl nicht befürchtet werden, da ja die Kreditaufnahme des Staates an anderer Stelle Vermögen absorbiert.) Sicherlich ist ein gewisser aufholender Konsum erwünscht und in einigen Bereichen unproblematisch, aber der sollte nicht nur von denen ausgehen, die in der Krise keine finanziellen Einbußen hinzunehmen hatten.
- Auch innerhalb der neoklassischen Modelllogik sind Löhne, die in normalen Zeiten als „Gleichgewichtslöhne“ gedeutet werden können, angesichts der Krise in einem modelltheoretischen Sinne zu hoch. Auch wenn die genaue Begründung etwas komplizierter ist, lässt sich das grob anhand der Gehaltsunterschiede für identische Tätigkeiten in verschiedenen Ländern erklären: Ein Taxifahrer in Indien ist ja nicht weniger produktiv als ein Taxifahrer in Deutschland, verdient aber nur einen Bruchteil von dessen Lohn, weil seine Kundschaft aufgrund des in Indien geringeren Durchschnittseinkommens weniger Geld zur Verfügung hat und er deswegen nicht so hohe Preise wie in Deutschland verlangen kann (siehe Kapitel 3 in Ha-Joon Chang’s Buch mit dem unglücklich übersetzten Titel „23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen“). Der Rückgang der deutschen Gesamtproduktion in der Corona-Krise und der damit verbundene Rückgang der Durchschnittseinkommen führt also dazu, dass die nicht betroffenen Gehälter in diesem Sinne zu hoch ausfallen.
- Ein weiterer, vielleicht besonders triftiger Grund, einen Teil der Transferleistungen aus den aktuellen Einkommen derjenigen zu finanzieren, die von der Krise finanziell verschont wurden, ist ein verbreitetes Bedürfnis der nicht Betroffenen, die Opfer der Krise finanziell zu unterstützen. An vielen Stellen lässt sich freiwilliger finanzieller Verzicht bereits beobachten, von Vorstandsmitgliedern großer Unternehmen über Bundesligafußballer bis hin zu den Besitzern von Eintrittskarten abgesagter Theatervorstellungen, die bewusst auf eine Erstattung des Ticketpreises verzichten.
Nun ließe sich argumentieren, dass eine individuelle und direkte finanzielle Unterstützung in dieser Form völlig ausreichend und einer zentralen Spendenkampagne vorzuziehen sei, da der unmittelbare Bezug zwischen Spender und Empfänger die Spendenbereitschaft erhöht und auch den Effekt haben kann, eine bessere langfristige Beziehung zwischen Spendern und Empfängern zu fördern.
Dabei ergeben sich aber zwei Probleme. Zum einen können die Spender die Bedürftigkeit der Empfänger auch aufgrund der bestehenden staatlichen Unterstützungsprogramme nur schwer einschätzen, so dass einige Empfänger eventuell überkompensiert werden (weil sie mehr staatliche Hilfe erhalten oder mehr Rücklagen haben, als die Spender vermuten) während andere zu wenige Spenden erhalten (weil potentielle Spender fälschlicherweise davon ausgehen, dass der Staat die Betroffenen hinreichend unterstützt). Zum anderen ist es für Spendenwillige gar nicht so leicht, sich für geeignete Empfänger zu entscheiden, weil es unzählige potentielle Bedürftige gibt und es, abgesehen von bereits gekauften Theatertickets o.ä., willkürlich erscheint, bestimmte Personen oder Organisationen zu bedenken und andere nicht. Mangels triftiger Gründe für einen bestimmten Empfänger unterlässt man es dann gleich ganz, weil einen die Entscheidung überfordert.
All dies spricht für eine landesweite Spendenkampagne, die in etwa so aussehen könnte: Privatleute und Unternehmen können an ein zentrales, vom Bundesfinanzministerium verwaltetes Spendenkonto spenden, und diese Einnahmen werden zur Hälfte dafür verwendet, die Schuldenaufnahme zu reduzieren, und zur anderen Hälfte, Bedürftige, die aktuell durchs Raster fallen oder deren Hilfe zu knapp bemessen ist, (umfangreicher) zu unterstützen . Die Staatskasse würde über die direkte Minderung der erforderlichen Kreditaufnahme hinaus (bei der man allerdings die Steuerausfälle gegenrechnen müsste, die durch die steuerliche Absetzbarkeit der Spenden entstehen würden) indirekt finanziell profitieren, weil sie weniger Sozialhilfe usw. auszahlen müsste.
Wichtig wäre eine gute Kommunikation über die Spendenkampagne, bei der die Hilfsbereitschaft der Menschen angesprochen wird und nicht ihre eventuellen Vorteile wie die steuerliche Absetzbarkeit. Auch müssten die Regeln für die Vergabe der Spendengelder unter Beteiligung und mit Zustimmung wichtiger Interessenvertretungen (Gewerkschaften, Kirchen, Arbeitgeber etc.) entschieden werden, um eine breite Akzeptanz zu gewährleisten. All dies ist natürlich noch nicht im Detail durchdacht, denn es geht mir nicht um diese konkrete Ausgestaltung, sondern darum, jetzt eine kluge und faire und vor allem lückenlose Lastenteilung zu organisieren, in der sich auch diejenigen finanziell engagieren, die das Glück haben, von der Krise nicht direkt finanziell betroffen zu sein und sich ein finanzielles Opfer auch ohne Schwierigkeiten leisten zu können.
Die Idee einer solchen Spendenkampagne dürfte es politisch sehr schwer haben. Es sprechen aber so viele Gründe für eine sofortige finanzielle Beteiligung der weiterhin gut Verdienenden an der Finanzierung der Transferleistungen, dass man auch eine vorübergehende höchst progressive Sondersteuer als Alternative bedenken sollte. Dabei könnte man Beitragswillige dazu ermutigen, jetzt schon einen Abschlag auf ihre Steuerpflicht zu entrichten, so dass es nicht zu einem zeitlichen Verzug zwischen der Auszahlung an die Leistungsempfänger und der Belastung der Steuerzahler kommt. So würde der Staat nicht nur auf Überbrückungskredite verzichten können, sondern würde auch den psychologischen Effekt vermeiden, dass Menschen keinen kausalen Zusammenhang mehr zwischen der Entrichtung der Sondersteuer und der Unterstützung von Bedürftigen sehen.
Auch eine Sondersteuer dürfte natürlich auf begrenzte Begeisterung in der Politik stoßen, und es ist schwer zu sagen, ob sie mehr oder weniger unrealistisch als eine große, staatlich organisierte Spendenkampagne ist. (Im Übrigen hat sie gegenüber einer Spendenkampagne den Nachteil, dass es sehr schwierig sein würde, Vermögen mit einzubeziehen.) Die Alternativ einer reinen Schuldenfinanzierung hat jedoch den Nachteil, dass die öffentlichen Haushalte in der Folge künftig weniger finanziellen Spielraum haben werden. Auch wenn man nicht versuchen würde, die gestiegene Schuldenquote in kurzer Zeit wieder auf die ca. 55% des BIP zu senken, die 2019 erreicht waren , gäbe es aufgrund der höheren Schuldenquote weniger Spielraum, all die Dinge zu finanzieren, die der Politik jetzt angeblich so wichtig sind, wie eine bessere Bezahlung von Pflegekräften oder eine bessere Vorsorge für Pandemien und andere Katastrophenlagen. Unterm Strich ist es allemal besser, jetzt den Überschuss an Kaufkraft teilweise abzuschöpfen, als in Zukunft auf die Bremse zu treten, wenn es die Konjunktur voraussichtlich ohnehin schwer hat.
Vor allem brauchen wir eine viel lückenlosere Unterstützung von Unternehmen und Privathaushalten, für die die zusätzlichen Gelder dringend gebraucht würden. Wer eine weitgehend lückenlose Unterstützung und eine dafür eventuell erforderliche Sondersteuer ablehnt, weil es marktwirtschaftlichen Prinzipien oder Grundsätzen des Eigentumsrechts widerspricht, muss sich klarmachen, dass die dadurch entstehenden sozialen Härten und vielleicht auch eine tiefe Rezession nicht Folgen eines Virus sein werden, sondern Folgen unseres Beharrens auf einer unsolidarischen Marktordnung.