Die in Deutschland von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellten Corona-Konjunkturmittel übersteigen mit ca. 330 Mrd. Euro ganz erheblich den prognostizierten Rückgang des BIP. Dies wirft einige Fragen zur Verhältnismäßigkeit und Zielgenauigkeit der Mittel auf und zeigt: auch in Krisenzeiten gelten Besitzstände als unantastbar.
(Dieser Beitrag ist am 15.7.2020 auf dem Portal Ökonomenstimme erschienen.)
Die jüngste Prognose des Sachverständigenrats (SVR) vom 23. Juni sagt einen Rückgang des BIP für 2020 um 6,5% voraus [1]. Das BIP wird demnach 2020 um 228 Mrd. Euro geringer ausfallen, als wenn das reale BIP bei 3.510 Mrd. Euro stagniert hätte, und um 259 Mrd. Euro weniger, als wenn das BIP wie noch im November vom SVR prognostiziert real um 0,9% gewachsen wäre (alles in Preisen von 2020).
330 Mrd. Euro Hilfsmittel stehen 228 Mrd. Euro BIP-Ausfällen gegenüber
Dem gegenüber stehen 330 Mrd. Euro, die die öffentliche Hand wegen der Corona-Krise zur Verfügung stellt. Diese setzen sich zusammen aus den 218 Mrd. Euro an zusätzlichem Geld, die der Bundestag im Zuge der beiden Corona-Konjunkturpakete beschlossen hat (das entspricht beeindruckenden 63% des Bundeshaushalts von 2019). Die Länder wiederum haben sich einer Erhebung des Landesrechnungshofes Schleswig-Holstein vom 14.5.2020 zufolge von ihren Parlamenten knapp 86 Mrd. Euro weitere Haushaltsmittel genehmigen lassen. Auf Ebene der Kommunen dürften keine ähnlich großen Beträge zusammenkommen, da sie einen großen Teil ihrer finanziellen Belastung vom Bund und teilweise von den Ländern ersetzt bekommen werden. Da zu den verbleibenden finanziellen Lasten der Kommunen keine Zahlen bekannt sind, werden für diesen Beitrag keine zusätzlichen Ausgaben auf Kommunalebene angenommen. Dazu kommen noch die 26 Mrd. Euro aus der Reserve der Bundesagentur für Arbeit (BA), die wohl bis Ende des Jahres vollständig ausgegeben werden, vor allem für Kurzarbeit. Mögliche weitere Mittel z.B. aus den Rücklagen der Krankenkassen werden hier der Einfachheit halber ebenfalls vernachlässigt (die Krankenkassen gehen z.B. laut Tagesspiegel von einem Fehlbetrag in Höhe von über 14 Mrd. Euro aus). In Summe ergeben sich unter diesen eher konservativen Annahmen 330 Mrd. Euro an zusätzlich budgetierten öffentlichen Mitteln (die sich aus neuen Ausgaben und Steuermindereinnahmen zusammensetzen), die zur Verfügung stehen. Nicht enthalten sind in diesen Zahlen die 600 Mrd. Euro des Wirtschaftsstabilisierungsfonds, die für Staatsgarantien, Unternehmensbeteiligungen und KfW-Sonderkredite reserviert sind. Es ist davon auszugehen, dass nicht der Gesamtbetrag von 330 Mrd. Euro im Jahr 2020 abgerufen wird, weil z.B. größere Investitionsprojekte nicht so schnell umgesetzt werden können und weil einige Länder, z.B. Bayern mit seinem Neuverschuldungsrahmen von 40 Mrd. Euro (61% des bayrischen Landeshaushalts von 2019), wohl nicht vorhaben, diese Kreditlinien auszureizen. Laut Olaf Scholz sind 30 Mrd. Euro der neuen Bundesmittel für 2021 vorgesehen. Wenn wir also davon ausgehen, dass nur 80% der insgesamt budgetierten Mittel von Bund und Ländern 2020 abfließen (aber 100% der Reserven der BA), dann kommen 2020 knapp 270 Mrd. Euro Corona-bedingte staatliche Mittel in Umlauf (s. Abb.).
Bei realistischer Betrachtung reicht das Geld also nicht nur, um den prognostizierten BIP-Rückgang auszugleichen, sondern auch, um das ursprünglich prognostizierte BIP-Wachstum um 11 Mrd. Euro zu überkompensieren. Und dabei sind die Mittel aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds wohlgemerkt noch gar nicht mitgerechnet, auch wenn von diesen ein noch nicht bekannter Betrag Unternehmen oder ihren (vormaligen) EigentümerInnen zufließen wird.
Zum Zusammenhang zwischen staatlichen Hilfszahlungen und Wirtschaftswachstum
Um Missverständnisse zu vermeiden: diese staatlichen Zahlungen erhöhen natürlich nicht unmittelbar das BIP, denn dieses misst ja die Produktion bzw. die aus produktiven Leistungen bezogenen Einkommen und nicht die Einnahmen der Wirtschaftsakteure insgesamt, insbesondere nicht Transferleistungen. Die staatlichen Hilfen erhöhen das BIP nur in dem Maße, in dem dank ihnen in Deutschland mehr Produktion stattfindet als ohne sie. Diesen Effekt, den die Bundesbank (im Monatsbericht Juni 2020, S. 31) grob auf „mehr als 1%“ tariert, hat der Sachverständigenrat in seiner jüngsten Prognose bereits berücksichtigt (S. 26), so dass das BIP dieses Jahr wohl in der Tat um etwa 6,5% geringer ausfallen wird als 2019 (ohne Konjunkturpakete wäre der Rückgang demnach größer als 7,5% gewesen ). In Bezug auf das BIP haben die Konjunkturpakete also nur einen geringen Effekt, d.h. der Multiplikator ist (jedenfalls bezogen auf das Jahr 2020) deutlich kleiner als eins, was aber nicht überraschen darf, da die Corona-Krise bzw. die verhängten Beschränkungen ja unmittelbar eine Reduktion des Angebots bewirkt haben. In Bezug auf die den Haushalten und Unternehmen zur Verfügung stehenden Einnahmen reichen sie aber mehr als aus, um rein rechnerisch alle Einnahmeausfälle von Unternehmen und Privathaushalten zu ersetzen. Als Folge davon, dass die Einnahmen des privaten Sektors dank der schuldenfinanzierten Hilfszahlungen die Produktion sowie den Absatz in diesem Jahr erheblich übersteigen, ist mit einer deutlich höheren Sparquote der Privathaushalte zu rechnen (15,6% in 2020 gegenüber 10,9% in 2019 laut SVR-Prognose vom Juni, S. 38).
Das Gießkannen-Geld landet überall – auch dort wo es nicht benötigt wird
Nun drängt sich die Frage auf, wie sich erklären lässt, dass sich trotz der schuldenfinanzierten Überkompensation des BIP-Rückgangs immer noch viele deutsche Unternehmen und Privathaushalte in finanziellen Schwierigkeiten befinden. Die Antwort darauf lautet wohl im Wesentlichen, dass es zu Fehlallokationen gekommen ist und die Hilfszahlungen nicht sehr zielgenau eingesetzt werden. Wenn zahlreiche Privathaushalte und Unternehmen im Laufe des Jahres finanzielle Einbußen erlitten haben obwohl ja mehr als genug Geld bereitgestellt wurde, um alle Ausfälle zu kompensieren, müssen an anderer Stelle Unternehmen oder Haushalte jetzt finanziell besser dastehen als ohne Corona.
Dazu gehören in erster Linie viele der etwa 80% der abhängig Beschäftigten, die dieses Jahr nicht von Kurzarbeit oder Entlassungen betroffen waren und daher keine Verdienstausfälle gehabt haben dürften [2]. Auch diese 80% profitieren nun von der gesenkten Mehrwertsteuer und bekommen bei Erfüllung der Voraussetzungen den Kinderbonus, obwohl sie keinerlei finanzielle Einbußen hatten.
Zu einem kleineren Teil dürften die Unterschiede auch damit zu erklären sein, dass Unternehmen in bestimmten Branchen höhere Profite erzielt haben, z.B. Unternehmen im Versandhandel oder Medizintechnik herstellende Unternehmen. Diesen Corona-Profiten stehen jedoch zusätzlich erbrachte Leistungen gegenüber, so dass hier nicht von einer Fehlallokation gesprochen werden kann.
Hauptsache Einkommenswachstum, und bitte keine Umverteilung
Diese unvollständige Analyse zeigt einen vergleichsweise trivialen Zusammenhang auf: Wenn als Reaktion auf einen negativen Angebotsschock die finanziellen Verluste der Leidtragenden auch nur teilweise kompensiert werden sollen, ohne die Besitzstände der anderen anzutasten, muss der Staat sehr viel (geliehenes) Geld in die Hand nehmen. Wenn dann noch zusätzlich die Nachfrage nennenswert stimuliert werden soll, müssen die zusätzlichen öffentlichen Ausgaben fast zwangsläufig den BIP-Rückgang übersteigen, da Mitnahmeeffekte vorprogrammiert sind.
Diese Vorgehensweise setzt jedoch eine fragwürdige Anspruchshaltung voraus und bestärkt diese wiederum: Wir hätten alle gerne auch in einer Krise epischen Ausmaßes weiterhin ein wachsendes Einkommen (die für 2020 bereits vereinbarten Lohnrunden und Rentenerhöhungen wurden zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt). Diejenigen, die aufgrund der Pandemie ihr Einkommen verloren haben, sollen für ihre Ausfälle, oder wenigstens einen Teil davon, entschädigt werden, aber bitte ohne die anderen an den Kosten zu beteiligen. Wenn einige (MinijobberInnen, Reisebüros, freischaffende KünstlerInnen usw.) ganz auf der Strecke bleiben, dann haken wir das als tragische Folge der Pandemie ab, auch wenn es angesichts der vielfach weiterhin sprudelnden Einkommen ein Leichtes wäre, finanzielle Härten durch moderate Umverteilung vollständig zu verhindern.
Gibt es wirklich keine Alternative zu Wirtschaftswachstum um jeden Preis?
Ist das ein Problem? Immerhin hat dieses fiskalische Feuerwerk den positiven Nebeneffekt, den HandelspartnerInnen Deutschlands in Europa und darüber hinaus einen kleinen Konjunkturimpuls zu geben. Abgesehen davon ist es aber ein Armutszeugnis, dass die Politik und anscheinend auch die Fachwelt kein anderes Mittel der Krisenbewältigung kennt, als immer noch mehr geliehenes Geld auszugeben, und kein anderes Ziel, als wieder auf den alten BIP-Wachstumspfad zu gelangen. Selbst die konsequente Vermeidung sozialer Härten wird diesem Ziel offenbar untergeordnet. Wir sollten aber auf den Fall vorbereitet sein, dass Wirtschaftswachstum in Zukunft aus anderen Gründen und evtl. auf Dauer ausbleibt, z.B. aufgrund von demographischem Wandel oder einer Paris-kompatiblen Klimapolitik. Dafür brauchen wir aber eine marktwirtschaftliche Vision sowie entsprechende wirtschaftstheoretische Modelle und fiskalische Strategien, wie BIP-Stagnation und makroökonomische Stabilität zu vereinbaren sind. Die Corona-Krise wäre eigentlich die Gelegenheit gewesen, damit zu beginnen, uns von dem Wachstumsimperativ zu befreien, aber stattdessen setzen wir doch wieder nur auf gekaufte Zeit.
[1] Real, also bereits bereinigt um 2,2% vom SVR prognostizierte Preissteigerung (BIP-Deflator).
[2] Laut Ifo-Institut war der Höhepunkt im Mai mit 7,3 Millionen gemeldeten Kurzarbeitenden bei insgesamt zu Jahresbeginn ca. 40,5 Mio. abhängig Beschäftigten, dazu sind aktuell etwa 640.000 mehr Menschen arbeitslos als vor einem Jahr.