Kategorien
Hintergrundanalyse

Ökonomische Handlungsoptionen in der Corona-Krise

Die Corona-Krise ist nicht einfach ein besonders schneller Konjunktureinbruch, sondern ein höchst asymmetrisches Ereignis: Sie trifft bestimmte Branchen mit voller Wucht, während andere kaum direkte finanzielle Auswirkungen spüren. Insgesamt wird hierzulande aber noch genug produziert, um unser aller Grundversorgung sicherzustellen. Es muss also irgendwie möglich sein, die asymmetrischen Lasten so umzulegen, dass wir alle gut durch diese Krise kommen.

Die Corona-Pandemie stellt ungekannte Herausforderungen an unsere Gesellschaften. Niemand kann vorhersagen, was in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren geschehen wird, aber wir werden sicher viele einschneidende Veränderungen und atemberaubende Entwicklungen beobachten. Wir werden sie jedoch nicht einfach nur beobachten, sondern gestalten diese Entwicklungen ja auch mit.

Als Grundlage für alle folgenden Überlegungen will ich zunächst einmal analysieren, welche ökonomischen Handlungsoptionen uns angesichts der Corona-Pandemie grundsätzlich zur Verfügung stehen. Dabei müssen wir uns zunächst einmal ganz grundsätzlich klar machen, dass die Wirtschaft kein nach Naturgesetzen funktionierendes System ist, sondern ein letztlich von menschlichem Handeln geprägtes komplexes Netzwerk von Menschen, Unternehmen, Gesetzen, staatlichen Institutionen usw., in dem zudem alle menschlichen Akteure prinzipiell dank Willensfreiheit unvorhersehbar entscheiden können. Was auch immer heute, in zwei Wochen oder in zwei Monaten in der Wirtschaft passiert, wird keine zwangsläufige „Folge der Pandemie“ sein, sondern Ergebnis unseres Umgangs mit der Pandemie (und der Verlauf der Pandemie selbst ist natürlich auch entscheidend geprägt von menschlichem Handeln, zum Beispiel unserer Reisetätigkeit). Die Pandemie verändert zwar unsere Handlungsspielräume – ein BIP-Wachstum für 2020 von 2% z.B. ist aufgrund der Pandemie nun unerreichbar – aber es bleiben uns dennoch unzählige Handlungsoptionen. Wie gut wir es als Gesellschaft – auch als Weltgesellschaft – durch die Krise schaffen werden, hängt also ganz entscheidend davon ab, welche dieser zahlreichen Handlungsoptionen wir nun ergreifen.

Eine der zu Recht größten ökonomischen Sorgen, die wir uns momentan machen, ist der Verdienstausfall sowohl von Unternehmen als auch von Privatpersonen bzw. Familien. Dies ist ein Problem, das uns sofort zum Handeln drängt und nicht erst in ein paar Wochen oder Monaten. Die Qualität dieses Problems wird dabei dieses Mal eine ganz andere sein, als wir das von anderen Krisen seit dem zweiten Weltkrieg kennen – und das auch, falls wir die Pandemie in wenigen Wochen in den Griff bekommen sollten.

Um die Natur dieses Problems besser zu verstehen, treten wir einen Schritt zurück und machen uns ein Bild davon, ob wir als Gesellschaft auch in einer über Monate gehenden Krise insgesamt genug Güter (mit „Güter“ sind Waren und Dienstleistungen gemeint) zur Verfügung haben werden, damit niemand Not leiden muss, damit also die Daseinsvorsorge für ausnahmslos alle Mitglieder der Gesellschaft gewährleistet ist. Das erfordert natürlich eine entsprechende Produktion von Lebensmitteln, Medikamenten und anderen überlebenswichtigen Waren, aber auch die Möglichkeit, mit unseren Liebsten zu telefonieren, das defekte Auto reparieren zu lassen, Post zu bekommen usw. Auch in der Krise wollen wir nicht nur irgendwie überleben, sondern ein den Umständen entsprechend annehmbares Leben führen können, ohne uns nur von Konserven ernähren zu müssen, den Müll nicht abgeholt zu bekommen oder in eine günstigere Wohnung umziehen zu müssen. Das meine ich hier mit Daseinsvorsorge.

Die Antwort auf diese Frage ist ein klares Ja: wir brauchen tatsächlich nicht zu befürchten, dass die Verfügbarkeit dieser Güter insgesamt unter ein kritisches Niveau fällt (dies gilt wohl nicht für alle Länder weltweit, aber ziemlich sicher für die meisten Länder in Europa). Natürlich setzt dies voraus, dass viele Menschen weiterhin zur Arbeit gehen, aber davon ist sicher auszugehen, weil die Politik klar sieht, dass die Aufrechterhaltung der Versorgung der Bevölkerung so existentiell wichtig ist, dass man dafür selbst Abstriche bei der Pandemiebekämpfung in Kauf nehmen muss, wie es ja selbst in Italien geschieht. Man muss außerdem nach allem, was man liest, nicht befürchten, dass die Versorgung wegen eines extremen Krankenstandes kollabiert, da eine Infektion mit dem Virus ja glücklicherweise in den meisten Fällen keine schwere Erkrankung nach sich zieht und nicht alle gleichzeitig in Quarantäne müssen. Probleme in globalen Lieferketten, im innereuropäischen Grenzverkehr usw. können zwar zu Einschränkungen führen, aber auch hier kann (und wird) man immer reagieren können, wenn es kritisch werden sollte, jedenfalls wenn die Krise auf wenige Monate beschränkt bleibt. Zudem erfordert der Konsum einiger Güter gar keine Produktion, nämlich die Inanspruchnahme von bereits produzierten Kapitalgütern wie Mietwohnungen oder geleasten Autos. Die Pandemie hat also auf die Versorgung mit diesen Gütern zunächst einmal gar keinen Einfluss (eventuell aber langfristig, falls die Instandhaltung und Produktion dieser Güter unter ein kritisches Niveau fällt).

Die grundsätzliche Möglichkeit, alle Menschen weiterhin mit dem Lebensnotwendigen und vielen Gütern darüber hinaus (wie Bier, Büchern und Youtube) zu versorgen, ist also sichergestellt, nicht zuletzt dank der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten des Online-Versandhandels. Natürlich gibt es punktuell Einschränkungen bei der Versorgung, die durchaus schmerzhaft sein können (wie bei Haarschnitten und Kinderbetreuung), aber diese erscheinen mir auch über mehrere Monate verkraftbar und allemal leichter zu ertragen als viele nicht-ökonomische Einschränkungen wie insbesondere ausbleibende soziale Kontakte.

Das Problem der Einkommensausfälle

Das entscheidende Problem ist also nicht die Verfügbarkeit von Gütern, sondern das für viele Familien (und auch Unternehmen) ausbleibende Einkommen bei weiterhin laufenden Ausgaben aufgrund des natürlich weiterhin bestehenden Konsumbedarfs. (Übrigens trifft dies exakt so auch auf Hungersnöte zu – eine Erkenntnis, für die der Ökonom und Philosoph Amartya Sen 1998 den Nobelpreis erhalten hat und dessen Arbeiten viele der folgenden Überlegungen inspiriert haben.) Wer beispielsweise als Inhaberin eines Reisebüros, als freischaffender Musiker, als gekündigte Angestellte eines Restaurants usw. keine größeren finanziellen Reserven oder alternative Einkommensquellen hat, auf die sie oder er bis zum Ende der Krise zurückgreifen kann, wird ohne Unterstützung von außen schlicht und einfach zahlungsunfähig und gerät ohne Unterstützung schnell in echte Not. Diese Not kann weit über das Ende der Pandemie hinausgehen, z.B. wenn jemand sich für die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen hoch verschulden muss, was für viele Betroffene eine reale Bedrohung darstellt. Im Übrigen kann auch das Leben von den eigenen Rücklagen eine Härte darstellen, z.B. wenn diese Rücklagen wichtig sind, um Altersarmut zu verhindern oder künftige Risiken abzusichern (oder auch, wenn jemand Rücklagen unter großen Opfern gebildet hat).

Wir haben also folgende Situation: Es gibt immer noch genug für alle, so dass das Leben ökonomisch gesehen rein theoretisch so weitergehen könnte wie bisher mit dem einzigen Unterschied, dass wir alle nun für eine Zeit auf die Dinge verzichten müssen, die gerade nicht produziert werden, wie Konzerte, Flugreisen usw. Es ist also streng genommen nicht unausweichlich, dass aufgrund der Krise Menschen in eine ökonomische Notlage geraten. Wenn Menschen in eine Notlage geraten, dann muss das also mit der Art und Weise zu tun haben, wie unsere Gesellschaften die Zuteilung der zur Genüge vorhandenen Güter organisieren.

Entscheidend für das Verständnis, warum diese theoretische Möglichkeit in der Realität nicht ohne Weiteres erreicht werden kann, ist die simple Tatsache, dass die Zuteilung der produzierten Güter über Märkte geregelt ist, die auf Bedürftigkeit keine Rücksicht nehmen. Auf Arbeits- und Kapitalmärkten (die übrigens dem Lehrbuchmodell eines Wettbewerbsmarkts nicht sehr nahe kommen müssen) erzielen Menschen ein Einkommen, das sie dann auf Gütermärkten für Konsum ausgeben oder in Form von Ersparnissen wieder dem Kapitalmarkt zuführen. Es gibt natürlich viele gute Gründe, die Zuteilung von Einkommen und Gütern so zu organisieren, auch wenn es nicht zuletzt angesichts der ausgeprägten Einkommens- und Vermögensungleichheit genauso viele gute Gründe gibt, sich nicht alleine auf diese Marktmechanismen zu verlassen.

Im Zuge der Corona-Krise bricht nun das Einkommen einiger Menschen weg, während das Einkommen anderer ganz oder in einem hinreichenden Maße bestehen bleibt (auch das Vermögen spielt hier natürlich eine Rolle, worauf ich an anderer Stelle zurückkommen werde). Dass einige kein Einkommen verlieren, kann daran liegen, dass sie weiterhin arbeiten können, oder aber auch daran, dass sie nicht von Arbeitseinkommen, sondern von stabil gebliebenen Kapitaleinkommen (wie Mieteinnahmen) leben (natürlich brechen auch einige Arten von Kapitaleinkommen weg, z.B. Dividenden).

Was passiert also konkret im Falle einer Familie, deren Einkommen wegfällt? Zum einen wird sie ihren Konsum soweit es geht reduzieren, was je nach vorherigem Einkommen einen großen oder aber auch einen sehr kleinen Unterschied machen wird. Für die Deckung ihrer Ausgaben bleiben nun grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Die Familie kann das Geld „geschenkt“ bekommen oder sie muss es sich sozusagen aus der Zukunft holen, indem sie entweder einen Kredit aufnimmt oder ihre Rücklagen aufzehrt. In beiden Fällen leiht sie sich das Geld aus der Zukunft und verzichtet darauf, diesen Teil ihrer künftigen Einkommensströme für Konsum auszugeben.

Als „Schenkender“ kommt natürlich erst einmal der Staat in den Sinn, wobei er solche Unterstützungsleistungen ja nicht schenkt, sondern auf der Grundlage von rechtlichen Ansprüchen leistet. Außer dem Staat gibt es aber prinzipiell noch andere Akteure, die der Familie Geld schenken können: Z.B. könnten diejenigen, von denen die Familie vorher ihr Einkommen bezogen hatte, das Einkommen (teilweise) weiterhin bezahlen, oder ihr Vermieter kann ihnen für ein paar Monate die Miete schenken.

Wie man es dreht und wendet, das Geld für die Deckung der Grundversorgung muss irgendwo herkommen, und zwar jetzt. Es gibt im Wesentlichen zwei entscheidende Fragen, deren Beantwortung darüber entscheidet, wie gut die am stärksten Betroffenen durch die Krise kommen werden: Ersten, woher kommt das Geld für die Deckung der Grundversorgung, und zweitens, in welchem Umfang steht es zur Verfügung? Dabei sollte allen klar sein, dass es nicht nur den Betroffenen hilft, wenn sie ihren Lebensunterhalt ohne in Überschuldung zu geraten weiter bestreiten können, sondern dass dies auch entscheidend zur Stabilisierung des Wirtschafts- und Finanzsystems beiträgt.

Faire Lastenteilung

In den wenigsten Fällen wird man denjenigen, die im Zuge der Corona-Krise schmerzhafte Einkommensverluste erleiden, die Hauptverantwortung dafür geben. Denkbar wäre dies in Einzelfällen, wenn z.B. ein Unternehmen schon vor der Corona-Krise aus eigenem Verschulden kurz vor dem Konkurs stand und durch die Corona-Krise endgültig insolvent wurde. In fast allen anderen Fällen dürfte es einen Konsens geben, dass die Einkommensverluste schicksalhaft und unverdient sind. Mehr noch: Die Absage von Konzerten usw. wurde ja angeordnet, um die Bevölkerung und vor allem – wenn auch nicht ausschließlich – eine Minderheit von gesundheitlich besonders gefährdeten Menschen zu schützen, d.h. die Einkommensausfälle sind in erster Linie eine Folge der Entscheidung zur Rücksichtnahme und nicht eine naturwüchsige Folge der Pandemie.

Wenn nun also einige unverschuldet ihr Einkommen verlieren und andere das Glück haben, ihres weiterhin zu beziehen, spricht vieles dafür, dass die Glücklichen eine moralische Pflicht haben, denjenigen beizustehen, die Pech gehabt haben. So müsste es theoretisch gelingen können, dass wir die Lasten der Krise so untereinander aufteilen, dass niemand in Not gerät.

Diese Lastenteilung wird immerhin dadurch begünstigt, dass wir einige Dinge wie Fernreisen usw. ja gar nicht mehr konsumieren können und daher auch weniger Ausgaben haben. Es sollte denjenigen, die keine Einkommenseinbußen haben und diese auch nicht befürchten müssen, also relativ leichtfallen, zumindest diesen Teil ihres Einkommens anderen zukommen zu lassen.

Wie genau eine faire Lastenteilung aussehen sollte, ist natürlich eine entscheidende und gleichzeitig schwierige Frage. Sie ist auch eine normative Frage, also eine, deren Beantwortung auch ethische Werturteile erfordert. Jeden konkreten Vorschlag für eine faire Lastenteilung wird man mit guten Gründen ablehnen können, aber das heißt nicht, dass hier Beliebigkeit herrscht. Diese normative Frage wird in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren im Zentrum der öffentlichen Diskussion stehen, und in dieser Diskussion wird es, wie immer, bessere und schlechtere Argumente geben.

Natürlich ist der naheliegendste Vorschlag für die konkrete Umsetzung einer fairen Lastenteilung, dass der Staat die Einkommensausfälle (teilweise) ersetzt, was ja auch bereits in vielen Ländern angekündigt wird. Dies ist auch erst einmal sicher vernünftig und sogar zwingend, wirft aber zum einen die Frage auf, wer die Lasten dann letztlich trägt (der Staat ist ja keine Person) und wie fair und sinnvoll die Weiterverteilung dieser Lasten ist, und zum anderen, in welchem Ausmaß neben dem Staat noch andere Kanäle für einen Lastenausgleich sorgen sollten, insbesondere, wenn die Krise sich länger hinzieht.

Diesen Fragen werde ich in weiteren Beiträgen nachgehen. An dieser Stelle sei aber schon vorausgeschickt, dass wir neben dem Staat auch die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft und der individuellen Hilfsbereitschaft nicht vergessen dürfen. Vielleicht sollten diese bei der Bewältigung der Krise sogar im Mittelpunkt stehen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.